So schwer kann leicht sein
Autos müssen abspecken. Doch die Gewichtsspirale umzudrehen, ist für Ingenieure harte Arbeit
Der YoYo-Effekt beschäftigt nicht nur Menschen, die eine Diät hinter sich haben. Auch Ingenieure kennen dieses Phänomen. Bei jedem Modellwechsel sparen sie irgendwo Gewicht ein. Trotzdem werden Autos immer schwerer. Weil die mühsam errungenen Sparerfolge schnell wieder einkassiert werden. Von Kunden, die sich mehr Raumkomfort und mehr Ausstattung wünschen. Von den Experten des europäischen Norm-Crashtests EuroNCAP, die ihre Anforderungen an die aktive und passive Sicherheit hochschrauben. Und von schärferen Abgas-Grenzwerten, die nur mit massivem Elektronikeinsatz zu erfüllen sind. Alles nachvollziehbare Wünsche und Ziele. Doch so kommt eine Gewichtsspirale in Gang, an deren Ende stärkere Motoren stehen, weil niemand auf gewohnte Fahrleistungen verzichten möchte, was wiederum größere Bremsscheiben und einen leistungsfähigeren Bremskraftverstärker erfordert.
Dass nun alle großen Hersteller von einer Umkehr dieser Gewichtsspirale reden, hat einen guten Grund. Nach Richtlinien der EU sollen neu zugelassene Autos ab 2020 im Durchschnitt nicht mehr als 95 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen. Dieser ehrgeizige Wert ist nur mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen erreichbar. Und obwohl immer wieder beschworen wird, dass der konventionelle Verbrennungsmotor noch nicht am Ende seiner Entwicklung sei, gilt sein Sparpotenzial augenblicklich als ziemlich ausgereizt. Spartechnologien wie Direkteinspritzung, weniger Hubraum kombiniert mit sanfter Turboaufladung, weniger Zylinder, Start-Stopp-Automatik, verbesserter Freilauf und Zylinderabschaltung können zwar den Verbrauch reduzieren nicht aber grundsätzlich das physikalische Gesetz aushebeln, wonach Verbrennungsmotoren den größeren Teil ihrer Leistung in Form von Wärme abgeben.
Folgerichtig beschäftigen sich die Techniker heute und in Zukunft noch intensiver mit den Fahrwiderständen. Dabei spielt das Gewicht eine große Rolle. Eine Faustregel besagt, dass pro einhundert Kilogramm weniger Gewicht der Verbrauch um 0,3 bis 0,4 Liter sinkt. Das Gewicht erfordert nicht nur beim Beschleunigen Kraft, sondern fließt indirekt auch in den Rollwiderstand ein. Denn je stärker ein Rad belastet wird, desto mehr verformt es sich. Wie viel Raum das Thema bereits in der Entwicklung eingenommen hat, zeigen die automobilen Neuheiten der letzten Wochen. Der neue Golf sei bis zu 100 Kilogramm leichter, verkündet VW, und habe nun wieder das Niveau eines Golf IV aus dem Jahr 1997. Genauso erfolgreich hat der Renault Clio abgespeckt mit einer Heckklappe aus Polypropylen und leichteren Stahlsorten. Betrachtet man den absoluten Wert, ist der neue Range Rover so etwas wie der Diät-König, der bis zu 420 Kilogramm weniger auf die Waage bringt. Bei einem Leergewicht von aktuell rund 2,6 Tonnen hat es dafür auch ausreichend Spielraum gegeben.
Allein die Monocoque-Karosserie aus Aluminium spart beim neuen Range Rover 180 Kilogramm ein und ist 39 Prozent leichter als eine vergleichbare Stahlkarosse. In der Produktion kann Rover auf Erfahrungen von Jaguar zurückgreifen. 1,3 Milliarden Euro hat das Unternehmen in den Alu-Leichtbau investiert und dabei neue Niet- und Klebetechniken entwickelt, die brandaktuell dem neuen F-Type zugute kommen. Die Aluminium-Rohkarosserie des zweisitzigen Roadsters, der die E-Type-Legende aufleben lässt, wiegt nur 261 Kilogramm. Als Karosseriebleche verwendet Jaguar hochfeste Aluminium-Legierungen, die 15 Prozent dünner und zugleich 20 Prozent fester sind als beim Modell XK. Hieraus resultiert eine interessante Schnittstelle zum Design. Das reduzierte Material lässt sich leichter formen und erlaubt um 50 Prozent verkleinerte Radien. So erweitert intelligenter Leichtbau den Spielraum der Designer, die mit ihrer Entscheidung für ein klassisches, leichteres Verdeck aus Stoff ebenfalls zur Gewichtseinsparung beigetragen haben.
Auch der neue Mercedes CLS „Shooting Brake“ nutzt Aluminium zur gezielten Gewichtsreduktion. Die rahmenlosen Türen sind aus tiefgezogenen Alu-Blechen gefertigt. Das leichte Baumaterial kommt außerdem bei Hecktür, vorderen Kotflügeln, Motorhaube und diversen Trägerprofilen zum Einsatz. Bei Fahrzeugen, das bereits in der Basisversion knapp 62.000 (Mercedes) oder knapp 90.000 Euro (Rover) kosten, gibt es für den Einsatz teurer Materialien natürlich wesentlich mehr finanziellen Spielraum als bei einem Golf. Volkswagen stand daher vor der Herausforderung, das Gewicht zu senken, ohne das Preisgefüge des kompakten Bestsellers anzutasten. Ein Grund dafür, dass Aluminium oder gar Teile aus sündhaft teurem Carbon nicht in Frage kamen. Trotzdem ist die Karosserie des Golf VII im Vergleich zum Vorgängermodell 23 Kilogramm leichter. Was beweist, dass selbst im „Ur-Material“ des Automobilbaus, dem Stahl, noch erhebliches Entwicklungspotenzial schlummert. Dabei führten zwei unterschiedliche Technologien zum gewünschten Erfolg. So genannte Tailor Rolled Blanks, also „maßgeschneiderte“, ausgewalzte Stahlbleche mit variabler Dicke, haben immer exakt nur die Wandstärke, die an einer bestimmten Stelle für die Stabilität benötigt wird. So entsteht beispielsweise ein leichterer Stahl-Querträger mit elf Zonen unterschiedlicher, jeweils optimierter Blechdicke.
Auch bei der zweiten Technologie geht es darum, die Materialstärke zu reduzieren. Weil das niemals auf Kosten der Stabilität und damit der Crashsicherheit gehen darf, kommt dabei ein Verfahren zum Einsatz, das gepressten Stahlteilen eine sechsmal höhere Festigkeit verleiht. Dazu wird das Rohmaterial auf 950 Grad Celsius erhitzt, warm umgeformt und schockartig abgekühlt. So entstehen formgehärtete Stahlteile, deren Zugfestigkeit mit den Seilen einer Hängebrücke vergleichbar ist. Ein einzelner Draht eines solchen Seils mit einem Querschnitt von einem Quadratmillimeter kann über 150 Kilogramm Gewicht tragen. Teile aus warm umgeformtem so genanntem ultrahochfesten Stahl erlauben extrem dünne Wandstärken, was unmittelbar ins Gewicht einfließt. Beim neuen Golf haben sie einen Anteil von 28 Prozent an der Rohkarosserie. Beim Golf VI waren es lediglich sechs Prozent.
Neben der Karosserie bietet der Innenraum eines Fahrzeugs vielfältige Möglichkeiten der Gewichtsreduktion. Die Grundfrage, ob ein Instrumententräger so opulent sein muss, wie er bei modernen Autos gestaltet ist, beantworten Experten mit einem klaren Ja. Überraschend eng sei hier der Spielraum, weil jeder Kubikzentimeter eine klar definierte Funktion habe. Dort wo früher ein schmales Radio, zwei Regler für Heizung und Lüftung und ein Handschuhfach untergebracht waren, ist Raum geschaffen worden für Airbags, Klimaanlage, Entertain- und Navigationssysteme und neue Bedienelemente. Zusätzlich gibt es diverse Sicherheitsbestimmungen, beispielsweise aus den USA, wonach weiche Aufprallzonen für nicht angeschnallte Passagiere vorhanden sein müssen. Insgesamt keine guten Voraussetzungen, um an dieser Stelle den Rotstift anzusetzen. Dass es trotzdem gelingen kann, zeigt ebenfalls der neue Golf. Allein bei den Sitzen konnten sieben Kilogramm gewonnen werden, maßgeblich auch mit dünneren, hochfesten Blechen. Wie um jedes Gramm gerungen wird, verdeutlicht die Instrumententafel. Die tragende Struktur der Tafel, ein Thermoplast-Schaumspritzguss, wurde sandwichartig mit einem Treibmittel aufgeschäumt, damit die mittlere Ebene des Materials ähnlich wie ein Hefeteig aufgeht und damit leichter wird. Die Ersparnis von 400 Gramm ist bei einem Fahrzeug, das fast 1,2 Tonnen wiegt, verschwindend gering. Aber ohne Mühe im Detail, sagen die Techniker, wäre man niemals auf die angestrebten 100 Kilogramm gekommen.
Reine Aluminium-Konstruktionen, wie es sie bei Audi, Jaguar und Land Rover gibt, sind in der automobilen Landschaft Unikate geblieben. Viel häufiger trifft auf Kombinationen aus ganz unterschiedlichen Materialien. Für einen recht exotischen Mix hat sich BMW beim neuen 6er Gran Coupé entschieden. Türen und Motorhaube sowie ein Großteil der Fahrwerkstechnik sind aus Aluminium gefertigt. Die vorderen Seitenwände dagegen bestehen aus Thermoplast, der Kofferraumdeckel aus Glasfaserverbundstoff. Grundsätzlich stellt jeder Material-Mix erhöhte Anforderungen an die Fertigung. Eine Karosserie, die allein mit Schweißpunkten fixiert ist, gibt es im modernen Automobilbau nicht mehr. Neue Niet- und Klebetechniken stabilisieren die selbsttragende Struktur und erlauben eine noch vor wenigen Jahren unerreichte Festigkeit. Wobei Klebstoffe nicht nur die Aufgabe haben, extrem feste Verbindungen zu gewährleisten. Sie müssen auch verhindern, dass Metalle unterschiedlicher Güte aufeinandertreffen. Ansonsten droht die gefürchtete Kontakt-Korrosion, die in der Anfangsphase dieser Technologie tatsächlich sehr gefürchtet war.
Die Umkehr der Gewichtsspirale zeigt zwar erste Erfolge. Doch Leichtgewichte sind die neuen Autos deshalb noch lange nicht. Das elegante, viertürige BMW Gran Coupé und der nicht minder attraktive Mercedes CLS Shooting brake bringen immer noch über 1,8 Tonnen auf die Waage, der neue Range Rover sogar über 2,1 Tonnen. Der finale Kampf gegen den YoYo-Effekt steht sogar erst noch bevor, wenn künftige, alternative Antriebstechnologien zusätzliche Masse in Form schwerer Stromspeicher in die Fahrzeuge bringen. Da wünscht sich mancher Ingenieur einen Big Bang, einen großen Durchbruch, der Pfunde wegschmelzen lässt wie bei den Weight Watchers. Mit Carbon könnte es gelingen. Bauteile aus CFK (Carbon-faserverstärkter Kunststoff) sind 50 Prozent leichter als Stahl bei gleicher oder sogar höherer Festigkeit. 300 Kilogramm Gewicht will BMW beim Elektro-Stadtauto i3 mit einer Karosserie aus CFK einsparen und damit das komplette Mehrgewicht der Lithium-Ionen-Akkus ausgleichen. Doch die Herstellung des Materials ist energieintensiv, die Verarbeitung anspruchsvoll. Bevor die Stoffbahnen mit Harz getränkt und in Form gebracht werden können, muss die aus reinem Kohlenstoff bestehende Faser bei 1.300 Grad Celsius gebacken werden. Das erfordert einen derart hohen Energieeinsatz, dass BMW die Faser-Produktion nach Moses Lake in den USA ausgelagert hat. Dort steht preisgünstiger Strom aus Wasserkraft zur Verfügung. Die Weiterverarbeitung zu Stoffbahnen erfolgt in Wackersdorf. CFK-Teile entstehen in Landshut und Leipzig. Weil CFK nachträglich nicht mehr verformt werden kann, ist bei jedem Arbeitsschritt höchste Präzision erforderlich. Nicht unproblematisch ist auch, dass Carbonfasern aus Erdöl gewonnen werden.
Es ist wahrlich keine beneidenswerte Aufgabe, Gewicht zu reduzieren, ohne Komfort, Sicherheit oder designerische Raffinesse anzutasten, ohne den Kostenrahmen zu sprengen oder nachhaltige Aspekte zu vernachlässigen. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht. Klaus Klages, Verleger und Satiriker, erkannte schon vor Jahren: Wer Gewicht reduzieren will, braucht Wagemut.
Hans-Joachim Rehg