Allein in Victorville
Auf einem verlassenen Kasernengelände in der kalifornischen Mojave-Wüste fuhren Roboter-Autos um die Wette. Das hat mehr mit dem Verkehr der Zukunft zu tun als wir heute ahnen
Schon wieder piept das Walkie Talkie. Sebastian Thrun unterbricht das Gespräch und konzentriert sich auf die Nachricht. „Junior“, berichtet der Beobachter, ist gerade an einem kleinen Stau vorbeigefahren, knapp vor dem Gegenverkehr eingeschert. Ein riskantes Manöver, das er aber sicher und souverän gemeistert hat. Der Stanford-Professor lächelt. Doch nicht einmal sein jungenhafter Charme kann über seine Nervosität hinwegtäuschen. Kein Wunder: „Junior“, ein mit Rechnern, Radar- und Lasersensoren hochgerüsteter VW Passat, muss seine Aufgaben da draußen ganz alleine bewältigen.
„Da draußen“, das ist das unübersichtliche Wegenetz eines verlassenen Kasernengeländes nahe Victorville, einem verstaubten Ort in der Mojave-Wüste irgendwo zwischen Los Angeles und Las Vegas. Ein ideales Gelände für die „Urban Challenge“, weil es Straßen, Kreuzungen und Bordsteine gibt, aber keine Menschen, die gefährdet werden könnten. 50 Begleitfahrzeuge simulieren einen ganz alltäglichen Stadtverkehr. Ihre Flanken sind verstärkt und ihre Fahrer tragen Sturzhelme. Sicher ist sicher. Denn die übrigen elf Verkehrsteilnehmer sind Roboter-Autos, die ohne Fahrer oder Fernsteuerung unterwegs sind.
Zu der „Roboter-Rallye“ eingeladen hat die Forschungsabteilung des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Die Militärs wollen eines Tages unbemannte Fahrzeuge an der Front einsetzen, um bei Aufklärungsfahrten oder der Bergung von Verletzten keine Menschenleben zu gefährden. Der mit Preisgeldern von 3,5 Millionen Dollar ausgestattete Wettbewerb soll die Entwicklung der autonomen Vehikel beschleunigen. Professor Thrun stören die militärischen Aspekte kaum. Der aus Solingen stammende Informatiker denkt eher an den zivilen Verkehr und die Opfer, die er fordert. In 20 Jahren, so seine Vision, könnte die Zahl der Verkehrstoten auf ein Zehntel reduziert werden. Mit den bei der „Urban Challenge“ erprobten Technologien wird es möglich sein, Fahrer-Assistenzsysteme zu entwickeln, die Unfälle weitgehend vermeiden.
Doch darauf ist der Nutzen nicht beschränkt. Fahrzeuge, die Abstände und Verkehrssituationen erkennen und entsprechend handeln, helfen dabei, das Straßennetz besser auszulasten und Energie zu sparen. Stoßstange an Stoßstange könnten Autos künftig mit konstanter Geschwindigkeit und stark verringertem Luftwiderstand über die Autobahn brausen. Professor Jürgen Leohold, der Leiter der VW-Konzernforschung, glaubt, dass schon in zehn Jahren Assistenzsysteme in der Lage sind, das Kommando in bestimmten Situationen zu übernehmen. Warum nicht bei nervigem Stopp-and-Go-Verkehr, also dann, wenn Auto fahren ohnehin keinen Spaß macht, die Automatik-Taste drücken und statt meterweise vorzurücken E-Mails am Bordmonitor beantworten?
Noch aber arbeiten die Roboter am Steuer der Versuchsfahrzeuge nicht so fehlerfrei, dass man sie in die freie Wildbahn schicken könnte. Die Inspektoren der „Urban Challenge“ registrieren einen Fast-Zusammenstoß, eine kleine Rempelei an einer Häuserecke und einen Totalausfall verursacht von einem abgestürzten Rechner. Doch an der komplizierten Kreuzung mit vier Stoppschildern läuft alles erstaunlich locker. Nach amerikanischem Verkehrsrecht muss hier jedes Fahrzeug anhalten. Derjenige, der zuerst steht, darf zuerst weiterfahren. »Junior«, der von Volkswagen und dem Stanford-Team aufgebaute Passat, löst die Aufgabe mehrfach mit Bravour. Er bremst sanft ab und beschleunigt entschlossen sobald die Kreuzung passierbar ist.
Obwohl alle teilnehmenden Fahrzeuge kiloweise mit Sensoren und Computern bestückt sind – bei „Junior“ wiegt das zusätzliche Equipment über 400 Kilogramm – entscheidet die Software das Rennen. Es gibt eine komplizierte Hierarchieabfolge, die parallel von mehreren Computern abgearbeitet werden muss, um zum richtigen Ergebnis zu kommen, erklärt Prof. Thrun, der in Stanford das Institut für künstliche Intelligenz leitet. Beispielsweise muss ein Roboter-Auto erkennen, ob ein vor ihm stehendes Fahrzeug parkt oder an einem Stoppschild hält. Erschwerend für die Programmierer kommt hinzu, dass die Karten des Geländes erst einen Tag vor dem Wettbewerb und die Zielkoordinaten wenige Minuten vor dem Start ausgegeben werden. Es ist der Moment, in dem die Teams den letzten Kontakt mit ihrem Schützling haben. Sobald er fährt, ist er ganz auf sich alleine gestellt.
Nach knapp sechs Stunden, rund 100 Kilometern und zahlreichen Sonderprüfungen (einparken, wenden) erreichen die ersten Roboter-Autos das Ziel. Einen Tag später, alle Videos sind zu diesem Zeitpunkt gesichtet und ausgewertet, erklärt die Rennleitung den Chevrolet Tahoe von der Carnegie Mellon University (Pittsburgh) zum Sieger. Mit nur hauchdünnem Abstand folgt der vom Stanford-Team und Volkswagen aufgebaute Passat namens „Junior“. Gewonnen aber haben wohl alle elf Finalisten, die sich bei Vorentscheidungen gegen weitere 78 Wettbewerber durchgesetzt haben.
Während die Aufräumkolonne anrückt, ist Professor Thrun mit seinen Gedanken schon bei der nächsten Herausforderung. In einem Jahr will er „Junior“ alleine von San Francisco nach Los Angeles fahren lassen. Naja, ein Fahrer, allzeit eingreifbereit, falls etwas schief gehe, müsse schon im Auto sitzen. Aber nur, weil es die Behörden sonst nicht genehmigen würden, sagt er -jetzt mit entspanntem Lächeln.
Hans-Joachim Rehg